Untersuchungen zur Reproduktionsdynamik beim mitteleuropäischen Wildschwein

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2009

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Zusammenfassung

Das Reproduktionsgeschehen beim europäischen Schwarzwild unterliegt in den letzten Jahren deutlichen Veränderungen. Einerseits häufen sich die Berichte über ganzjährig zu beobachtende Frischlinge, andererseits werden im zunehmenden Maße sehr junge, bereits Frischlinge führende Bachen gesichtet. Diese Faktoren scheinen zu dem merklichen Anstieg der Schwarzwildpopulation beizutragen, der hinsichtlich der entstehenden wirtschaftlichen Schäden und der öffentlichen Aufmerksamkeit ein nicht unerhebliches Ausmaß angenommen hat. Die vorliegende Studie hatte zum Ziel, einen Beitrag zum Verständnis der Reproduktionstätigkeit der wildlebenden Schwarzwildpopulation insbesondere im Hinblick auf die möglichen Veränderungen zu leisten. Von besonderem Interesse waren in diesem Zusammenhang die Saisonalität und die Beteiligung von Jungtieren an der Reproduktion beim Schwarzwild: Das Postulat einer strengen Saisonalität erscheint, ebenso wie die Annahme, dass lediglich Tiere mit einem Lebensalter von über einem Jahr dazu in der Lage sind, reproduktiv tätig zu sein, vor dem Hintergrund sich häufender, gegenteiliger Beobachtungen nicht mehr haltbar. Insgesamt 499 Wildschweine beiderlei Geschlechtes und aller Altersgruppen wurden in die Studie einbezogen. Die Wildschweine wurden an 24 Jagdterminen in 21 Mittelgebirgsrevieren in Rheinland-Pfalz und Hessen in der Drückjagdsaison von Oktober 2003 bis Januar 2004 jagdlich erlegt. Als für die Untersuchung uneingeschränkt verwertbar erwiesen sich 475 Tiere, die zu annähernd gleichen Teilen männlichen (n=220) und weiblichen (n=255) Geschlechtes waren. Noch an der Strecke wurde anhand der Zahnformel eine monatsgenaue Altersbestimmung aller Tiere bis zu einem Lebensalter von 2 Jahren durchgeführt, ältere Wildschweine wurden als Adulte zusammengefasst.Das Wiegen der Wildkörper erfolgte mittels einer Federwaage im ausgenommenen und weitgehend entbluteten Zustand. Mittels Schiebelehre und Maßbändern wurden unterschiedliche Parameter an den Wildkörpern vermessen und dokumentiert, wobei besonderes Augenmerk auf die Erhebung der individuellen körperlichen Konstitution mittels Messung der subkutanen Fettschicht gelegt wurde. Die Reproduktionsorgane wurden, ebenso wie eine Blutprobe, asserviert und zur weiteren Bearbeitung innerhalb von 24 Stunden nach Erlegung an die Klinik verbracht. Hier erfolgte eine Vermessung und Wiegung der jeweiligen Reproduktionsorgane sowie eine makroskopische Untersuchung derselben. Sichtbare Funktionskörper an den Ovarien wurden identifiziert, ausgezählt und vermessen. Jeweils eine Gewebeprobe aus Hoden und Nebenhoden wurde zur histologischen Untersuchung gewonnen, fixiert und eingebettet, um histologische Schnittpräparate anzufertigen, zu färben und hinsichtlich des Zellbildes auszuwerten. Die Blutproben männlicher Wildschweine wurden abzentrifugiert und das Serum zur Testosteronbestimmung nach Extraktion einem etablierten radioimmunologischen Messverfahren (RIA) zugeführt.Die Datenauswertung erfolgte mittels Students t-test und Chi2-Test. Hinsichtlich der Saisonalität der Reproduktion beim Wildschwein konnte festgestellt werden, dass, abweichend von den Literaturangaben, eine strenge Saisonalität nicht existiert. Bei 427 Sauen mit einem Lebensalter von weniger als 2 Jahren konnte anhand der Zahnformel der Geburtsmonat berechnet werden und es zeigte sich, dass in jedem Monat Frischlinge geboren worden waren. Die ermittelte Geburtenrate in der Hauptfrischzeit (März bis Mai) lag signifikant (p<0,05) unterhalb der in der Literatur genannten. Regional war ein dreigipfeliger Verlauf der Geburtenhäufigkeit mit jeweiligen peaks in den Monaten April, August und Dezember zu verzeichnen. Anhand der makroskopischen Untersuchung der Reproduktionsorgane von 167 weiblichen Wildschweinen, die die Geschlechtsreife erreicht hatten, konnte festgestellt werden, dass 89 Tiere (53,3%) entweder gravid waren, Follikel mit einem Durchmesser von mehr als 6 mm oder frische Corpora lutea aufwiesen und somit am Reproduktionsgeschehen teilhaben konnten. Getrennt nach Altersgruppen betraf dies 71,4% der adulten Bachen, 60,9% der weiblichen Überläufer und 36,8% der Frischlingsbachen. Mit zunehmendem Lebensalter, beginnend ab dem siebten Lebensmonat bis zu einem Jahr, steigt der Anteil der sexuell reifen Frischlingsbachen signifikant (p<0,001) an: Während lediglich ein Fünftel der weibliche Frischlinge bis zum siebten Lebensmonat Funktionskörper auf den Ovarien aufwies, betrug dieser Anteil im 12. Lebensmonat bereits mehr als 68%. Die individuelle Konstitution, gemessen an der Feistdicke, hatte bei Frischlingsbachen einen signifikanten (p<0,05) Einfluß auf die ovarielle Aktivität: Wenn auch lediglich bei 45,8% der gut konditionierten Tiere insgesamt Funktionskörper auf den Ovarien zu finden waren, so betrug dieser Anteil bei mäßig genährten Frischlingsbachen nur 15%.
Zur Beurteilung des sexuellen Reifegrades männlicher Wildschweine wurde anhand der histologischen Untersuchung von Hoden- und Nebenhodengewebe und der korrespondierenden Serumtestosteronspiegel von 145 Tieren eine Klassifizierung in vier Maturitätsklassen vorgenommen. Es zeigte sich eine signifikante Korrelation (p<0,05) zwischen histologischen Befunden und mittleren Serumtestosteronkonzentrationen. Ab einem Grenzwert der Serumtestosteronkonzentration von 0,07 ng/ml finden sich histologische Differenzierungsvorgänge im Hodenparenchym, die auf den Beginn der Pubertät hindeuten. Bis zur Vollendung des neunten Lebensmonates waren bei 60% der männlichen Frischlinge, bei Vollendung des ersten Lebensjahres in 80% der Fälle Anzeichen des Pubertätseintrittes festzustellen. Differenzierte Spermatiden als morphologisches Korrelat der eingetretenen Zeugungsfähigkeit waren im 9. Lebensmonat bei 20%, bis zur Vollendung des ersten Lebensjahres bei mehr als einem Drittel, nach Ablauf des 13. Lebensmonates regelmäßig bei männlichen Wildschweinen nachzuweisen.Auch bei männlichen Frischlingen ist die körperliche Konstitution mit dem Eintritt in die Pubertät korreliert. Gutgenährte männliche Frischlinge im Alter von 6 bis 8 Monaten erreichten mit 56% signifikant häufiger (p<0,05) einen peripubertären Status als mäßig konditionierte Individuen der gleichen Altersklasse (24%). Eine Möglichkeit zur Einschätzung des Maturitätsgrades männlicher Frischlinge ist in der Korrelation des Gonadengewichtes zur Masse des Wildkörpers gegeben: Bei 185 dahingehend untersuchten Tieren konnte festgestellt werden, dass die relative Gonadenmasse (Summe der Gewichte beider Hoden und Nebenhoden) in Bezug zur Wildkörpermasse bei Frischlingen der Maturitätsklasse 1 durchschnittlich 0,1% beträgt, etwa 0,2% in der Maturitätsklasse 2. Zeugungsbereite Frischlinge der Maturitätsklasse 3 wiesen ein relatives Gonadengewicht von 0,61% auf, mature Keiler von durchschnittlich 0,82%.
Fazit Beide der Studie zugrunde liegende Arbeitsthesen konnten durch die gewonnenen Erkenntnisse bestätigt und somit die empirischen Beobachtungen mit wissenschaftlichen Methoden belegt werden. Die strenge Saisonalität der Reproduktion des europäischen Wildschweines mit einer Frischzeit in den Monaten März bis Mai ist anhand des eigenen Untersuchungsgutes nicht nachzuvollziehen. Wenn auch eine gewisse Häufung der Frischtermine in den genannten Monaten zu verzeichnen ist, so werden weitere Spitzenwerte in den Monaten August und Dezember erreicht und insgesamt in jedem Monat des Jahres Frischlinge geboren. Der Pubertätseintritt ist wesentlich von der körperlichen Konstitution abhängig und wesentlich früher nachzuweisen, als bislang angenommen. Weibliche Frischlinge können zu einem geringen Anteil bereits in einem Alter von 7 Monaten die Geschlechtsreife erreicht haben, beinahe regelmäßig bereits mit etwas über einem Jahr. Jeder fünfte männliche Frischling kann mit dem 9. Lebensmonat als theoretisch zeugungsbereit gelten, mit Ablauf des 13. Lebensmonat sind männliche Frischlinge in der Regel geschlechtsreif. Die genannten Faktoren sind als wesentlich für das annähernd exponentielle Anwachsen der Wildschweinpopulation anzusehen und haben direkte Konsequenzen für die Bejagungsrichtlinien und empfehlungen zur Regulation der Bestände. Insbesondere vor dem Hintergrund der sich stetig verbessernden Ernährungsgrundlage für wildlebende Wildschweine, weniger strenger Wintermonate mit entsprechend geringeren natürlichen Verlustraten und dem nicht unerheblichen wirtschaftlichen und öffentlichen Druck auf die Jägerschaft dürften sich Bejagungsfehler, vor allem bezüglich der Zerstörung der Sozialstrukturen durch Erlegung der Leitbachen, als begünstigend für ein weiteres Anwachsen der Wildschweinpopulation auswirken.


Reproduction among European wild boars has changed considerably in the recent years. On the one hand, there are frequent reports on shoats that can be observed year-round, while on the other hand sightings of very young wild sows accompanied by their own shoats increase. These factors seem to contribute to the significant rise in the wild boar population, which has reached substantial proportions in terms of the economic damage and the public attention involved. The present study aimed at making a contribution towards a better understanding of the reproductive activity of the boar population living in the wild particularly with regard to possible changes. Seasonality and participation of young animals in the wild boar reproduction were of particular interest in this context: against the background of frequently made converse observations, the postulation of a strict seasonality as well as the assumption that only animals aged over one year are able to reproduce, seems to be indefensible. A total of 499 wild boars of both sexes and all age groups was included in the study. The animals were killed in the course of 24 hunting events in 21 upland hunting districts in Rhineland-Palatinate and Hesse in the flush hunting season lasting from October 2003 until January 2004. 475 animals, in roughly equal shares of male (n=220) and female (n=255) sex, proved suitable for use without restrictions. Right on the spot where the kill was deposited, an age determination of all animals not older than 2 years was implemented stating the animals correct age in months by using the dental formula, while older wild boars were classified as adults. After having been gutted and largely bled, the carcasses were weighed with a spring balance. Calliper and tape measures were used to measure and document various parameters in the carcasses, with special focus on the ascertainment of the individual physical constitution by means of measuring the hypodermic adipose tissue. The reproductive organs as well as a blood sample were collected and taken to the hospital for further processing within 24 hours after killing the animal. Here, the reproductive organs were measured, weighed and macroscopically analysed. Visible functional structures on the ovaries were identified, counted and measured. One tissue sample each was taken from the testicles and epididymides for histological examination, fixed and embedded in order to produce histological preparations as well as to dye and analyse them as to the cell profile. The blood samples of male wild boars were centrifugated. After extraction, the serum was subjected to an established radioimmunologic measuring process (RIA) for testosterone determination. Data evaluation was implemented by using a Students t-test and a Chi2 test. With respect to the aspect of seasonality in the reproduction of wild boars, it could be ascertained that at variance with literature a strict seasonality does not exist. The month of birth of 427 wild sows aged under 2 years could be calculated by means of the dental formula. It became apparent that shoats had been born each month. The birth rate ascertained in the main farrowing period (from March to May) was markedly below (p<0.05) the rate stated in literature. A regional three-peaked trend in fertility could be observed with peaks in the months of April, August and December. On the basis of a macroscopic examination of the reproductive organs of 167 female wild boars having reached sexual maturity, it could be ascertained that 89 animals (53.3%) were either gravid, displayed follicles with a diameter of more than 6 mm or fresh corpora lutea and were hence able to participate in reproductive activities. Separated into age groups, this related to 71.4% of the adult sows, 60.9% of the subadult wild sows and 36.8% of the female shoats. With growing age, beginning from the seventh month of life up to one year, the percentage of sexually mature female shoats shows a significant increase (p<0.001): while only one fifth of the female shoats aged up to seven months displayed functional structures on the ovaries, these structures were found in more than 68% of all shoats in their 12th month of life. The individual constitution, as measured by adipose tissue thickness, showed a significant (p<0.05) impact on the ovarian activity of female shoats. Although it is true that only a total of 45.8% of all animals in good condition displayed functional ovarian structures, the share among the moderately nourished female shoats was only 15%.
On the basis of a histological examination of the testicle and epididymides tissue and an analysis of the corresponding serum testosterone levels of 145 male wild boars with the objective of assessing the sexual maturity level of male wild boars, a classification into four maturity classes was carried out. A significant correlation (p<0.05) was revealed between histological evidence and average serum testosterone concentrations. Beginning with a limiting value of the serum testosterone concentration of 0.07 ng/ml, histological differentiation processes are to be found in the testicle parenchyma suggesting the beginning of puberty. Up to the completion of the ninth month of life 60% of the male shoats showed signs of the advent of puberty and 80% of the animals having completed their first year of age. Differentiated spermatids as a morphological correlate of the onset of fertility among male wild boars could be evidenced in 20% of the animals aged 9 months, in more than a third of the animals up to the completion of the first year of age and regularly in more than one third after completion of the 13th month of life. The physical constitution of male shoats also correlates with the advent of puberty. At a rate of 56%, well-nourished male shoats aged between 6 and 8 months reached a peripubertary status significantly more frequently (p<0.05) than moderately conditioned individuals of the same age group (24%). The correlation between the gonadal weight and the mass of the animal body offers an opportunity to assess the degree of maturity of male shoats. In 185 animals examined in this respect, it could be found that the relative gonadal mass (total weight of both testicles and epididymides) in relation to the animal mass is on average 0.1% for shoats of maturity class 1 and approximately 0.2% for maturity class 2. Procreative shoats of maturity class 3 showed a relative gonadal weight of 0.61%, mature male wild boars of 0.82% on average.
Conclusion Both working assumptions forming the basis of the study were confirmed by the insights gained and hence the empirical observations could be evidenced by using scientific methods. Own examination results do not allow the confirmation of a strict seasonality in the reproduction of European wild boars with a farrowing period from March to May. Although it is true that a certain accumulation of farrowing dates in the aforementioned months can be discerned, further peak values are reached in August and December and on the whole, shoats are born in each month of the year. The advent of puberty substantially depends on the physical constitution and can be evidenced much earlier than previously assumed. A small percentage of female shoats is able to reach sexual maturity at an age of 7 months. They reach sexual maturity almost regularly at an age of slightly over one year. As from its 9th month of age, every fifth male shoat can be considered to be theoretically procreative while male shoats generally reach sexual maturity upon completion of their 13th month of life. The factors stated above are to be considered as being of vital importance for the almost exponential growth of the wild boar population. They have direct repercussions on hunting guidelines and recommendations to control the game population. Notably against the background of a constantly improving nutritional situation of boars living in the wild, less severe winter months accompanied by correspondingly lower natural loss rates and a considerable economic and public pressure exerted on hunters, mistakes made in determining hunting guidelines, most notably in view of the destruction of social structures due to the killing of the leading sow, might have promotive effects on a further growth in the wild boar population.

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