Leseentwicklung in der Grundschule: Eine Längsschnittstudie unter besonderer Betrachtung der förderdiagnostischen Kompetenz der Lehrkräfte

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2021

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Lesekompetenz wird als bedeutsame, wenn nicht wichtigste, Kompetenz angesehen, die Schülerinnen und Schüler im Verlauf der Grundschulzeit erwerben müssen. Unzureichende Lesefähigkeiten erschweren eine selbstständige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (Hurrelmann, 2013, S. 163; Spinner, 2010, S. 48). Zudem können Schwierigkeiten im Lesen zu niedrigeren Schulabschlüssen und in der Folge zu schlechteren Chancen am Arbeitsmarkt führen (Esser, Wyschkon & Schmidt, 2002, S. 241). Aus diesem Grund kommt den förderdiagnostischen Kompetenzen von Grundschullehrkräften ein besonderes Augenmerk zu, da diese die Schwierigkeiten frühzeitig erkennen und mit geeigneten Unterstützungsmaßnahmen eingreifen müssen. Zentrale Fragen dieser Studie waren: Können Lehrkräfte leseschwache Kinder ausmachen? Entwickeln sich die Kinder, die den Lehrkräften als leseschwach aufgefallen sind, positiver als Kinder, die nicht aufgefallen sind? Ergreifen die Grundschullehrkräfte unterstützende Maßnahmen und führen diese zu einer verbesserten Leseentwicklung? Es wurde zur Beantwortung der Fragen eine Beobachtungsstudie durchgeführt, die zeitgleich in Deutschland, Südtirol und Finnland stattfand, um einen Vergleich der Länder zu ermöglichen. Die vorliegende Studie berücksichtigt nur die Daten aus Deutschland, die in 7 Grundschulen mit 13 Klassen und insgesamt 281 teilnehmenden Grundschulkindern erhoben wurden. Die Daten der Kinder wurden über Fragebögen und schulische Leistungstests zu Rechtschreib- und Lesefähigkeiten erhoben. Insgesamt gab es sieben Messzeitpunkte, wovon die ersten sechs jeweils zu Beginn, zur Mitte und zum Ende des ersten bzw. zweiten Schuljahres stattfanden. Die förderdiagnostische Kompetenz der Lehrkräfte wurde erfasst, indem sie in Interviews drei offene Fragen zu ihren Schülerinnen und Schülern beantworteten. Sie sollten zu jedem Messzeitpunkt die Kinder nennen, die ihnen auffällig geworden waren. Danach wurden sie zu jedem dieser Kinder gefragt, was ihnen aufgefallen war und schließlich, was getan wird. Die offenen Antworten der Lehrkräfte wurden durch zwei Beurteilerinnen kategorisiert. Die Antwortkategorien mit ausreichender Beurteilerübereinstimmung wurden in die Datenauswertung einbezogen. Zur statistischen Auswertung der Fragestellungen wurde teilweise auf statistisches Matching zurückgegriffen, da keine randomisierte Gruppenzuteilung erfolgen konnte. Ebenso liegt durch die Klassenverbände eine ge-schachtelte Datenstruktur vor, die mit dem statistischen Matching entsprechend berücksichtigt werden konnte. Fehlende Daten, wie sie in einer Langzeitstudie häufig vorkommen, wurden durch multiple Imputation über den chained equations-Ansatz (MICE) ergänzt (Enders, 2017; Rubin, 1987). Die Auswertung erfolgte mit den Programmen SPSS und R sowie RStudio. Entgegen der Annahme fielen den Lehrkräften Mitte der ersten Klasse 94 Prozent und Ende der ersten Klasse 74 Prozent der leseschwachen Kinder nicht als solche auf. Insgesamt liegt dieser Anteil signifikant über dem theoretisch angenommenen Anteil von 33 Prozent, wie aufgrund der Ergebnisse der IGLU-Studie 2006 angenommen wurde (Valtin et al., 2010, S. 76). Das Geschlecht der Kinder konnte als ein Einflussfaktor auf die Urteilsakkuratheit der Lehrkräfte ausgemacht werden. Während sich in der ersten Klasse noch kein Zusammenhang zeigte, wurden in der zweiten Klasse dagegen signifikant weniger leseschwache Mädchen leseauffällig als leseschwache Jungen. Ein weiteres wesentliches Ergebnis ist, dass die Lesefähigkeiten der Kinder nicht dadurch beeinflusst wurden, ob die Lehrkräfte die Leseschwierigkeiten erkannt hatten. Zwischen ihnen und Kontrollgruppen, die über statistisches Matching bestimmt worden waren, zeigte sich kein signifikanter Unterschied in der Leseentwicklung und der Leseleistung zum Ende des vierten Schuljahres. Kinder, die den Lehrkräften allgemein negativ auffällig geworden sind, beispielsweise durch fehlende Lernmotivation oder auffälliges Verhalten, entwickelten sich sogar negativer in hierarchiehöheren Ebenen des Lesens als eine über statistisches Matching ermittelte Kontrollgruppe. Analog zu Ergebnissen der IGLU-Studien verblieben auch in dieser Studie etwa zwei Drittel der Kinder ohne schulinterne Leseförderung (Bremerich-Vos, Stahns, Hußmann & Schurig, 2017, S. 281; Valtin et al., 2010, S. 76). Der Erfolg der genannten Unterstützungsmaßnahmen wurde ebenfalls betrachtet. Es konnte kein Zusammenhang gefunden werden zwischen dem Zeitpunkt der ersten Nennung einer Förderung und der Lesekompetenz zum Ende der vierten Klasse. Spezifische Förderprogramme wurden nur für zwei bis drei Kinder genannt, sodass der Erfolg dieser Maßnahmen nicht statistisch geprüft werden konnte. Zudem konnte die Studie aufzeigen, dass eine Teilnahme an schulinterner Deutschförderung nicht zu besseren Lesefähigkeiten zum Ende der vierten Klasse führte. Leseschwache Kinder, die keine schulinterne Deutschförderung erhalten haben, zeigten zum Ende der vierten Klasse sogar eine bessere Leistung im sinnentnehmenden Lesen von Sätzen als Kinder, die eine solche Förderung erhalten haben. Der Grund für diesen Unterschied kann mit den vorliegenden Daten nicht ermittelt werden. Insgesamt nannten die Lehrkräfte allerdings nur sehr wenig spezifische Fördermethoden und keine Verfahren, die in der gesamten Klasse durchgeführt werden können, wie beispielsweise Lautleseverfahren. Die Studie zeigt die Relevanz für regelmäßige und klassenweite Lesescreenings, um frühzeitig und zuverlässig leseschwache Kinder ermitteln zu können. Zudem sollten häufiger lesespezifische Fördermaßnahmen ergriffen werden, da die Teilnahme an schulinterner Deutschförderung zu keiner besseren Leseentwicklung führte.

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