Retrospektive Analyse rechtsmedizinischer Untersuchungen lebender Gewaltopfer am Institut für Rechtsmedizin der Justus-Liebig-Universität Gießen von 2005 bis 2014

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2022

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Die Untersuchung mutmaßlicher Gewaltopfer benötigt eine fachgerechte Beurteilung und Begutachtung, eine vor Gericht verwertbare, objektive Dokumentation und die Etablierung bundesweit akzeptierter Standards. In der vorliegenden Arbeit wurden die Daten aus dem Zeitraum 2005 bis 2014 der rechtsmedizinsch-körperlichen Untersuchungen von lebenden Gewaltopfern im Institut für Rechtsmedizin der Justus-Liebig-Universität Gießen und dessen Einzugsgebiet mit den fünf Landgerichtsbezirken Kassel, Fulda, Marburg, Limburg und Gießen retrospektiv untersucht. Um Aussagen über das Fallaufkommen und den erwarteten Versorgungsbedarf zu treffen, wurden sowohl die rechtsmedizinische Versorgungssituation in Gießen und dessen Einzugsgebiet betrachtet als auch das Geschlecht der (mutmaßlichen) Gewaltopfer, der Vorstellungszeitpunkt und die Qualität der Dokumentation der Verletzungen. Ebenso wurde darauf geachtet, ob Standards eingehalten wurden und wie sich die Anzahl der Fälle an Gewaltopferuntersuchungen in den Jahren von 2005 bis 2014 im Institut für Rechtsmedizin in Gießen entwickelte. Die Ergebnisse dieser Studie beziehen sich ausschließlich auf die physischen Verletzungen. In der vorliegenden Arbeit wurden 523 Untersuchungen von sowohl verletzten mutmaßlichen Opfern wie auch verletzten mutmaßlichen tatverdächtigen Personen ausgewertet. Die jährlichen Untersuchungen stiegen von 28 im Jahr 2005 auf 136 im Jahr 2014, wobei die Mehrzahl der Untersuchten mit 297 Probanden männlichen Geschlechts waren. Die größte Gruppe an Untersuchten waren die unter 18-jährigen mit 232 Personen insgesamt, davon 143 im Alter von unter 6 Jahren. Die Mehrzahl aller untersuchten Personen stammte aus dem näheren Umfeld des rechtsmedizinischen Instituts der Justus-Liebig-Universität Gießen. 300 der 523 Fälle kamen aus einer Entfernung von weniger als 20 km. Ebenso von Bedeutung sind die 253 Untersuchungen ohne eine Angabe zum Zeitabstand zwischen Tatgeschehen und Untersuchungszeitpunkt sowie die 177 Untersuchungen ohne Angaben zum Tatverdächtigen-/Gewaltopferumfeld. Betrachtet man dies im Zusammenhang mit der gesetzlichen Lage, insbesondere nach der Ratifizierung des Istanbul-Protokolls, zeigt sich, dass es gravierende Mängel sowohl in der Versorgung von Gewaltopfern wie auch in der Dokumentation der Befunde gibt und damit auch in der Betreuung von Gewaltopfern gemessen am gesetzlichen Anspruch. Es mangelt vor allem an einheitlichen deutschlandweiten Standards für die Dokumentation, wie Vergleiche mit anderen Studien zeigen, zumal die Erstvorstellung von möglichen Gewaltopfern mehrheitlich bei anderen Berufsgruppen stattfindet (Mitarbeiter von Jugendämtern, Polizei, Psychologen und Allgemeinmediziner/Hausärzte). Aber auch die geringe Anzahl an rechtsmedizinischen Einrichtungen erschwert die fachgerechte und gerichtsfeste Dokumentation sowie die ausreichende Betreuung aller möglichen von Gewalt betroffenen Personen. Die bessere Schulung aller mit Gewaltopfern in Kontakt tretenden Berufsgruppen, ein einheitlicher Anamnese- und Befund-Aufnahmebogen für die gesamte Bundesrepublik Deutschland, aber auch mehr Personal und Einrichtungen sind notwendig, um den gesetzlichen Anforderungen nachzukommen, alle Opfer von Gewalt adäquat zu betreuen und mögliche Straftaten aufzuklären. Zusammenfassend ergeben sich bei der nicht nur rechtsmedizinischen Gewaltopferuntersuchung im Institut für Rechtsmedizin in Gießen eine Reihe von Kritikpunkten bzw. Verbesserungsvorschlägen:

  1. Zur Beurteilung der Aussagekraft von Verletzungsbefunden muss die angegebene Tatzeit oder der mitgeteilte Tatzeitraum dokumentiert werden.
  2. Der zeitliche Abstand zwischen Tatgeschehen und Untersuchungszeitpunkt muss erfasst werden. 3. Vorgaben zur Anamneseerhebung mit offener Fragestellung und gegebenenfalls wörtlicher Dokumentation von Aussagen müssen der Regelfall sein.
  3. Die Reihenfolge der Beschreibung von Körperregionen mit oder ohne Verletzungen sollte standardisiert werden, damit keine Region bei der körperlichen Untersuchung vergessen wird.
  4. Angaben zur Lokalisation von Verletzungen müssen präziser erfolgen.
  5. Wundcharakteristika müssen sorgfältiger beschrieben werden.
  6. Das bei der Beschreibung von Verletzungen verwendete Vokabular ist uneinheitlich, hier ist ein Konsens erforderlich, welche Verletzungen wie beschrieben werden sollten.
  7. Zu häufig fand sich lediglich eine Verletzungsbeschreibung, jedoch weder eine Fotodokumentation noch ein Eintrag von Befunden in vorgegebene Körperschemata.
  8. Die Abnahme der Zahl von Gewaltopferuntersuchungen mit zunehmender Entfernung vom Institut für Rechtsmedizin verdeutlicht die Notwendigkeit einer besseren Infrastruktur für die ortsnahe Betreuung von Gewaltopfern, dies auch vor dem Hintergrund entsprechender politischer wie gesetzlicher Vorgaben (z.B. Istanbul-Konvention).
  9. Soweit externe nicht-rechtsmedizinische Beurteilungen zu Verletzungen nach Gewalteinwirkung bekannt geworden sind, zeigt sich die Notwendigkeit einer qualifizierten Weiterbildung, z.B. für spezialisierte Pflegekräfte (Forensic Nurses), wie dies im Ausland teilweise praktiziert wird.
  10. Mittel- bis langfristig ist ein flächendeckendes Netz für eine qualifizierte Gewaltopferbetreuung anzustreben.
  11. Die genannten Verbesserungen tragen auch einer notwendigen Verbesserung der Beweissicherung in gerichtlichen Verfahren zur gutachterlichen Bewertung von Verletzungsbefunden und sonstigen Spuren bei.

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