Entscheidungsverhalten bei komplexen Problemen: Die Sortenwahl bei Winterweizen

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2017

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Neue Weizensorten sind aufgrund von Zuchtfortschritten im Durchschnitt leistungsfähiger als ältere Sorten. Trotzdem bauen die Landwirte überwiegend ältere Sorten an. Da nur marginale Preisunterschiede zwischen neuen und alten Sorten vorliegen und Produktivität sowie ökologische Ziele durch den Anbau älterer Sorten negativ beeinflusst werden, bietet die Produktionstheorie keine hinreichenden Erklärungen für dieses Phänomen. In dieser Arbeit wird zum ersten Mal das Entscheidungsverhalten von Landwirten unter Berücksichtigung der von Herbert A. Simon begründeten Theorie der begrenzten Rationalität erforscht.Deutsche Landwirte bauen auf etwa 3 Mio. Hektar Winterweizen an. Für den Anbau können sie aus einer Vielzahl von Weizensorten wählen, deren Erträge innerhalb gleicher Produktionssysteme erheblich variieren. Je besser eine Sorte an ein Produktionssystem angepasst ist, desto effizienter können die Produktionsfaktoren, wie z. B. Land und Pflanzenschutzmittel, genutzt werden. Die Sortenwahl ist folglich aus ökologischer und ökonomischer Sicht ein relevantes Entscheidungsproblem.Als theoretische Grundlage dieser Arbeit dient das Konzept der ökologischen Rationalität aus der Theoriedomäne der begrenzten Rationalität. Ein zentraler Baustein dieser Theorie sind heuristische Entscheidungsverfahren, die zur Lösung von schlecht strukturierten Inferenzentscheidungen eingesetzt werden. Die Sortenwahl stellt aufgrund der Wechselwirkungen zwischen Weizenpflanzen, Produktionsverfahren und Standort, der Vielzahl von Alternativen mit vielen Attributen sowie des großen Einflusses der nicht exakt prognostizierbaren Jahreswitterung ein solches Entscheidungsproblem dar. Das bedeutet, Landwirte müssen Inferenzen über die Eignung von Sorten für spezifische Produktionssysteme bilden. Dabei können sie auf unterschiedliche Informationsquellen zurückgreifen, die sich unter anderem in der Aktualität unterscheiden. Zur zielführenden Nutzung dieser Quellen bedarf es unterschiedlichen Wissens, das in der Entscheidungsforschung auch als mentale Modelle bezeichnet wird.In der vorliegenden Arbeit werden das Entscheidungsverhalten der Landwirte und die Ursachen des verzögerten Anbaus neuer Weizensorten mit zwei empirischen Studien untersucht. Die Expertenbefragung mit 33 Teilnehmern führt zu zwei zentralen Erkenntnissen: Es werden primär Informationsquellen als geeignet eingestuft, in denen die Informationen zu Sorten erst einige Jahre nach ihrer Zulassung aufgeführt werden, wodurch der verzögerte Anbau neuer Sorten teilweise erklärt werden kann. Zudem wird deutlich, dass in der Expertengruppe intra- und interpersonelle Unterschiede in den Vorstellungen über die Ertragsrelevanz einzelner Sorteneigenschaften bestehen. Dies belegt, dass innerhalb der Expertengruppe keine einheitlichen mentalen Modelle über die Interaktion zwischen Produktionssystem, Sorteneigenschaften und Ertrag vorliegen.Das Verhalten bei konkreten Entscheidungen wird anhand eines anreizkompatiblen, computerbasierten Laborexperiments mit 188 Teilnehmern erforscht. Hierbei wird erstmalig die Anwendung von Entscheidungsverfahren von realen Entscheidungsträgern (Landwirten) bei der Auswahl realer Alternativen (reale Sorten) in realistischen Entscheidungssituationen (reale Produktionssysteme) mit Hilfe einer Information-Display-Matrix beobachtet. Die Ergebnisse zeigen, dass die Landwirte am häufigsten die heuristischen Prinzipien Reduktion der einbezogenen Sorteneigenschaften und nicht-kompensatorische Merkmalsbeurteilungen anwenden. Zudem wird mit den Sortennamen eine Schlüsselinformation am stärksten berücksichtigt. Dies zeigt, dass die Landwirte vornehmlich versuchen, auf eigene Erfahrungen zurückzugreifen. Die Nutzung eigener Erfahrungen bedingt, dass neue Sorten nicht berücksichtigt werden können und erklärt den verzögerten Anbau neuer Sorten. Die Einbeziehung von Anbau-, Resistenzeigenschaften und einzelnen Ertragskomponenten schwankt in Abhängigkeit von der Ausgestaltung der Produktionssysteme. Die Berücksichtigung dieser Eigenschaften variiert interpersonell, was die großen Unterschiede in den subjektiven Einschätzungen über die Ertragsrelevanz einzelner Sorteneigenschaften aufzeigt. Die Probanden passen den Entscheidungsaufwand nicht an die ökonomische Tragweite, jedoch in Abhängigkeit verschiedener Produktionssysteme an. Zudem wird kein Zusammenhang zwischen Entscheidungsaufwand und Entscheidungserfolg festgestellt. Auch einfache Entscheidungsverfahren führen zu guten Ergebnissen. Diese Beobachtungen unterstützen die Annahmen der Theorie der begrenzten Rationalität bzw. der ökologischen Rationalität.Die aus den Ergebnissen abgeleiteten Implikationen adressieren Landwirte, Zuchtunternehmen sowie die pflanzenbauliche Beratung und Forschung. Durch die Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen können Landwirte darin unterstützt werden, erfolgreichere Entscheidungen bei der Sortenwahl zu treffen und somit die Potenziale pflanzenzüchterischer Innovationen zu nutzen.


New wheat varieties are on average more efficient than older ones due to the breeding progress. The guiding premise of this thesis is that, despite this fact, farmers mostly grow older varieties. Since only marginal price differences between new and old varieties are present and productivity, as well as ecological goals, are adversely affected by the cultivation of older varieties, classical production economics cannot offer a sufficient explanation for this phenomenon. In this study farmers´ decisions are investigated for the first time based on the theory of bounded rationality in the sense of its inventor, Herbert A. Simon.German farmers grow winter wheat on about a quarter of the whole German arable land. The farmers can choose among many different winter wheat varieties. Their yielding differs considerably in the same production systems. The better adapted a variety is to a production system, the more efficient production factors such as land or pesticides can be used. Therefore, variety selection is a relevant topic from an ecological as well as an economic point of view.The concept of ecological rationality, as a part of the domain of bounded rationality, is used as the theoretical basis of this research. Heuristic decision-making procedures which can be applied to solve bad-structured inference tasks are the central building block of this theory. Variety selection is such a decision problem because of the complex interactions between wheat plants, production processes, and the production site, the multitude of alternatives with many attributes, and the strong influence of the uncertain annual weathering. Farmers must infer the suitability of varieties for specific production systems. They can use different information sources to solve this task. Among other things, these sources differ regarding topicality. Different kinds of knowledge are required to use these sources purposeful. In decision research, this individually varying knowledge is denoted as mental models.In this thesis, two empirical studies are conducted. They are based on a comprehensive examination of plant production and decision-making theory relevant for the selection of varieties. These are used to investigate the decision-making behavior of the farmers and to explain the delayed cultivation of new varieties. An expert survey with 33 participants yielded two central results: (I) the majority of the participants consider sources to be appropriate, which contain information on varieties some years after their market launch. This explains partly the delayed cultivation of new varieties. (II) Within the expert group, the perceptions about the relevance of single varietal properties for wheat yield differ strongly between subjects and the specific production systems. This indicates that the experts have no uniform mental model of the interactions between production systems, varietal properties, and yield.An incentive compatible computer-based lab experiment with 188 participants was used to examine the decision-making in concrete decision situations. For the first time, an information-display-matrix was used to trace the decision processes of real decision makers (farmers), choosing among real alternatives (real varieties) in a realistic setting (real production systems). The results confirm that farmers apply different heuristic principles. The most frequently observed heuristic principles are the reduction of the varietal attributes included in the decisions and the non-compensatory attribute evaluation. In addition, most farmers are taking the key information variety name into account. Using variety names displays that farmers are trying to access their own experiences (internal information). This implies that new varieties cannot be considered and explains likewise the delayed cultivation of new varieties. The use of other properties like growth and resistance attributes, as well as yield components, varies depending on the concrete design of production systems. The consideration of these attributes also varies interpersonally. This illustrates the big differences in subjective assessments of yield relevance of single variety properties. The decision effort does not differ depending on the scope of the decision task. Furthermore, no correlation between effort and accuracy was found. Simple decision-making procedures also lead to good results. These observations support the assumptions of the theory of bounded rationality and ecological rationality.Based on the results several implications are developed, which are addressed to farmers, breeding companies, plant production consultants, and researchers. The implementation of the proposed measures can support farmers to make more successful decisions in variety selection and thus help to exploit potential of plant breeding innovations.

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