Gesundheitliche Folgen belastender Kindheitserfahrungen besser verstehen: Die Rolle der Persönlichkeitsfunktionen

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2023

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Die vorliegende Habilitationsschrift untersucht die gesundheitlichen Folgen belastender Kindheitserfahrungen. Während belastende Kindheitserfahrungen als Risikofaktoren für die Entstehung einer Vielzahl von psychischen Störungen und chronischen körperlichen Erkrankungen diskutiert werden, leistet die Habilitationsschrift darüber hinaus einen Beitrag, die zugrundeliegenden Mechanismen besser verstehen zu lernen und fokussiert dabei die Bedeutung der Persönlichkeitsfunktionen – insbesondere Strukturniveau, Mentalisierungsfähigkeit und Epistemisches Vertrauen – innerhalb dieser Zusammenhänge.
Die Persönlichkeitsfunktionen stellen als basale zugrundeliegende u. a. Bewältigungsfähigkeiten von inner- und intrapsychischen Krisen einen Grundstein für die gesunde psychische und körperliche Entwicklung und Resilienz im Erwachsenenalter. Zentrale Aspekte der Persönlichkeitsfunktionen umfassen basale Fähigkeiten sowohl in Bezug auf das Selbst u. a. in den Dimensionen Selbstwahrnehmung und Selbstregulation, als auch mit Bezug auf andere – also im Sinne interpersonellen Verhaltens – u. a. in den Dimensionen Emotionale Kommunikation (Empathie) und Bindung. Störungen in Form von belastenden Kindheitserfahrungen können diese Entwicklung langfristig negativ beeinflussen, womit ihnen eine Prädisposition für spätere Pathologien innewohnt. Mit der Aufnahme ins DSM-5 und ICD-11 gewannen die Persönlichkeitsfunktionen als transdiagnostisches Konstrukt in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung, insbesondere im Zusammenhang mit psychischen Störungen. Die Habilitationsschrift liefert den Beitrag einer empirischen Untersuchung dieser noch immer überwiegend theoretisch und klinisch fundierten Konstrukte. Durch die Validierung und Normierung an repräsentativen Bevölkerungsdaten liegen mit dem OPD-SFK und dem MZQ erstmals Instrumente vor, die Rückschlüsse auf Aspekte der Persönlichkeitsfunktionen wie das Strukturniveau (OPD-SFK) und die Mentalisierungsfähigkeit (MZQ) erlauben und ökonomisch und reliabel in Forschung und Klinik Anwendung finden können.
Damit war es möglich zu zeigen, dass Zusammenhänge zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und psychischen Störungen signifikant mit den Persönlichkeitsfunktionen assoziiert sind. So fanden sich mediierende Effekte des Strukturniveaus bei hochprävalenten psychischen Belastungen wie Depressivitäts- und Angstsymptomen oder auch weniger prävalenten, dafür jedoch umso belastenderen und risikobehafteten Symptomen, wie denen der PTBS und kPTBS sowie Phänomenen wie nicht-suizidalen Selbstverletzungen und Suizidversuchen. Dabei waren höhere Beeinträchtigungen des Strukturniveaus mit höheren Belastungen assoziiert. Bei spezifisch traumaassoziierten Phänomen wie der Dissoziation wurde schon lange diskutiert, dass schwer belastende Kindheitserfahrungen so intensiv schädigende Ereignisse darstellen, dass sie schwerste Beeinträchtigungen des Strukturniveaus bedingen und damit auch die dissoziative Symptomatik. Die Annahme, dass hier insbesondere Mentalisierungsschwächen mit den Zusammenhängen zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und der dissoziativen Symptomatik assoziiert sind, konnte im Rahmen der Habilitation erstmals gezeigt werden. Darüber hinaus wurde das relativ neue transdiagnostische Konstrukt des epistemischen Vertrauens näher betrachtet. Hier konnte gezeigt werden, dass sowohl das Strukturniveau als auch das epistemische Vertrauen relevante Mediatoren für den Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und PTBS bzw. kPTBS darstellen, wobei insbesondere dem epistemischen Vertrauen eine bedeutsame Rolle zukommt.
Obwohl sich das Strukturniveau im Laufe des Lebens konsolidiert und im Allgemeinen als eine Summe stabiler, anlagebedingter mentaler Fähigkeiten betrachtet wird, finden sich vielfach Belege, dass diese durch hilfreiche Erfahrungen z. B. im Rahmen psychotherapeutischer Behandlungen positiv beeinflusst werden können. Es erfolgten daher Untersuchungen klinischer Stichproben, in denen beispielsweise für Patient:innen in psychosomatischer Rehabilitationsbehandlung gezeigt werden konnte, dass die Mentalisierungsfähigkeit einen potenziell kritischen Erfolgsfaktor für Symptomverbesserungen während der Rehabilitation darstellt und dass eine der Kernkomponenten zur Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit eine Reduktion des epistemischen Misstrauens war.
Die Relevanz der Persönlichkeitsfunktionen für chronische körperliche Erkrankungen wurde am Beispiel Diabetes mellitus veranschaulicht. Auch hier konnte erstmals gezeigt werden, dass der Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und Diabetes mit Beeinträchtigungen des Strukturniveaus verbunden ist. Gleichzeitig scheint das Strukturniveau assoziiert mit dem Zusammenhang von belastenden Kindheitserfahrungen und dem deutlich gehäuften Auftreten extrem belastender suizidaler Gedanken. Dies betont einmal mehr die in den letzten Jahren für den Umgang mit dem Diabetes zunehmend an Beachtung gewinnenden psychischen und psychosozialen Faktoren. Dass es zielführend sein kann, bei Patient:innen mit Diabetes und psychosozialen Belastungen, die über Standardangebote wie DMPs oder Diabetesschulungen nicht ausreichend erreicht werden, psychotherapeutische Angebote zu etablieren, die nicht nur gezielt die diabetesbezogenen und damit spezifischen Belastungen adressieren, sondern auch das Strukturniveau berücksichtigen, konnte ein RCT zeigen. Die psy PAD-Studie umfasste einen integrierten psychodynamisch orientierten psychotherapeutischen Behandlungsansatz, der die Reduktion von diabetesbezogenen Belastungen fokussierte und gleichzeitig das Strukturniveau berücksichtigte. Es konnte gezeigt werden, dass ein solcher Behandlungsansatz nicht nur die psychischen und diabetesbezogenen psychosozialen Belastungen reduziert, sondern auch die Stoffwechseleinstellung verbessert werden können. Zukünftige und aktuelle Studienvorhaben verfolgen diesen Ansatz weiter. Mit neuen Projekten wie der Ed-iPP-Studie, in welcher diabetesbezogene Belastungen aus der subjektiven Perspektive von Patient:innen mit Diabetes erfasst werden sollen, oder auch der DFG-geförderten minDBe-Studie, bei der die psy-PAD-Intervention an ein Gruppensetting adaptiert und als neues Versorgungsangebot in die kürzlich gegründeten psychosomatischen Institutsambulanzen (PsIA) implementiert werden soll, wird die Forschung und klinische Erprobung auch in den nächsten Jahren weiter vorangetrieben.
Der aktuelle Forschungsstand kann nur ein Anfang sein, um zugrundeliegende pathogene Mechanismen im Zusammenspiel von belastenden Kindheitserfahrungen mit psychischen Störungen und chronischen körperlichen Erkrankungen wie dem Diabetes besser zu verstehen. Die hier überwiegend vorliegenden Querschnittsuntersuchungen unterliegen einer Reihe methodischer Einschränkungen, die keine Kausalschlüsse zulassen. Longitudinale Studien sind notwendig, um neben assoziativen auch kausale Zusammenhänge nachzuweisen. Gleichzeitig bedarf es genauerer Betrachtungen der untersuchten Konstrukte, um besser verstehen zu lernen, wie genau diese sich störungs- und erkrankungsspezifisch auswirken. Neue Konstrukte wie das epistemische Vertrauen benötigen weithin Berücksichtigung in der klinischen Forschung, aber auch Praxis. Während mit der mentalisierungsbasierten und der strukturbezogenen Psychotherapie bereits spezifische Therapieangebote vorliegen, müssen Ansätze, die das epistemische Vertrauen fokussieren, erst noch entwickelt und die Relevanz des Konstruktes in verschiedenen psychotherapeutischen Settings untersucht werden. Erste Vorhaben hierhingehend sind bereits angelaufen oder befinden sich in Vorbereitung. Dabei sollten mit Blick auf die Bedeutsamkeit der Persönlichkeitsfunktionen zukünftig auch chronische körperliche Erkrankungen mehr in den Fokus genommen werden, insbesondere, aber eben nicht ausschließlich dann, wenn komorbide Psychopathologien vorliegen. Jedoch auch in der Abwesenheit einer diagnostizierbaren psychischen Störung sollte das Risiko eines durch beeinträchtigte Persönlichkeitsfunktionen gestörten Gesundheitsverhaltens in der Risikogruppe von Menschen mit belastenden Kindheitserfahrungen und chronischen körperlichen Erkrankungen stärker bedacht werden.

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