Die gerichtliche Sanktionspraxis tierschutzrelevanter Straftaten zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Bundesrepublik Deutschland und in Gießen

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2022

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Im Zusammenleben von Menschen und Tieren legt das Tierschutzgesetz (TierSchG) rechtliche Mindestanforderungen an den Umgang mit Tieren fest, welche das Tier um seiner selbst willen schützen. §17 TierSchG bildet dabei die Grundlage der strafrechtlichen Verfolgung tierschutzwidriger Handlungen und stellt die Tötung eines Wirbeltieres ohne vernünftigen Grund (§17 Nr. 1 TierSchG), Tierquälerei aus Rohheit (§17 Nr. 2a TierSchG) sowie das Zufügen von länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden (§17 Nr. 2b TierSchG) unter Strafe. Bei der Verfolgung tierschutzrelevanter Straftaten wird jedoch immer wieder ein Vollzugsdefizit beklagt, welches in dieser Arbeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts erstmal umfangreich auf der Grundlage der gerichtlichen Sanktionspraxis in Deutschland untersucht wurde. Die vorliegende Arbeit schließt diese Lücke mittels einer Analyse der gerichtlichen Sanktionspraxis tierschutzrelevanter Straftaten anhand der Strafverfolgungsstatistik (SVS) der Jahre 2002 bis 2018 sowie eines Aktenstudiums bei der Staatsanwaltschaft Gießen der Jahre 2016 und 2018. Im Untersuchungszeitraum von 2002 bis 2018 machen Verfahren wegen Straftaten gem. §17 TierSchG 0,09 % (n=15.061) aller geführter Verfahren aus. Nach TierSchG konnten 11.474 Verurteilungen registriert werden. Bei der Untersuchung der Verfahrensausgänge zeigt sich, dass Straftaten nach dem TierSchG mangelhaft verfolgt werden. Dies zeigt sich insbesondere durch hohe Einstellungsquoten (23,82 % aller wegen Verstöße gegen §17 TierSchG geführten Fälle und 19,17 % der Fälle insgesamt) und signifikant (p<0,0001) seltenere Verurteilungen nach dem TierSchG (in 76,18 % der Fälle) als insgesamt (80,83 % der Fälle). Von 500.000 fiktiven strafbaren Handlungen gem. §17 TierSchG kommt es rechnerisch zu drei Verurteilungen. Auch nach der Novellierung des TierSchG im Jahr 2013 kommt es zu keiner nachweisbaren Steigerung der Zahl an Verurteilungen nach dem TierSchG. Die Art der Verurteilungen nach allg. StR unterscheidet sich signifikant vom deutschlandweiten Durchschnitt insgesamt (p<0,0001), wobei Verurteilungen zu Geldstrafen (91,85 %, n=10.139) in einem signifikanten linearen Zusammenhang mit der Zahl an Verurteilungen stehen (r=0,997). Freiheitsstrafen (n=900) werden zu 91,78 % (n=829) zur Bewährung ausgesprochen und die maximale Freiheitsstrafe von drei Jahren wurde im gesamten Untersuchungszeitraum nicht verhängt. Durch den Vergleich der Sanktionspraxis von Straftaten gem. §17 TierSchG und §§223, 225 und 303 Abs. 1 StGB kann festgehalten werden, dass tierschutzrelevante Straftaten weniger ernst genommen werden als die genannten Straftaten gem. StGB. In Gießen werden Ermittlungsverfahren am häufigsten durch Anzeigen von Privatpersonen aufgenommen (54,54 %), Veterinärämter stellen 14,77 % der Anzeigen. Die Ermittlungsverfahren werden zu 82,95 % eingestellt, wobei die Staatsanwaltschaft in etwa in drei Viertel der Fälle (76,74 %) die anzeigende Instanz über den Ausgang der Verfahren unterrichtet. Hunde sind die am häufigsten betroffene Tierart (40,91 %), wobei Misshandlungstaten signifikant häufiger (p<0,05) als bei anderen Tierarten auftreten. Strafbefehle beenden in 11,36 % der Fälle das Ermittlungsverfahren. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass Frauen in Bezug auf tierschutzrelevante Handlungen häufiger als Täterinnen auftreten als insgesamt. Dies zeichnet sich durch ein Geschlechterverhältnis von 3:1 (von Männern zu Frauen) bei tierschutzrelevanten Straftaten und 4:1 bei Straftaten insgesamt ab. Personen, die tierschutzrelevante Straftaten begehen, sind im Schnitt älter als tatbegehende Personen insgesamt, weshalb hier ein Paradigmenwechsel im Umgang mit Tieren diskutiert wird. Die Arbeit offenbart durch die Aufdeckung und Beschreibung des Vollzugsdefizits auch eine unzureichende Umsetzung des Staatsziels Tierschutz. Um dieses in Zukunft zu stärken und die konsequente Verfolgung tierschutzrelevanter Straftaten zu sichern, werden neben der Mensch-Tier-Beziehung und der Bedeutung der Sanktionspraxis tierschutzrelevanter Straftaten für die Gewaltprävention als Lösungsansätze die Stärkung der interdisziplinären und behördenübergreifenden Zusammenarbeit, die Weiterbildung und tierschutzrechtliche Professionalisierung von Amtstierärztinnen und Juristinnen, die Schaffung von Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften und -Richterinnen, die Behebung von Personalengpässen und die Einrichtung einer Stelle zur unabhängigen Gutachtenverfassung bei tierschutzrelevanten Straftaten diskutiert. Desweitern müssen unbestimmte Rechtsbegriffe von den Gerichten zeitgemäß ausgelegt werden, sodass Amtstierärztinnen Abwägungs- und Auslegungshilfen erhalten, um das Staatsziel Tierschutz umzusetzen und Anordnungen und Entscheidungen stets rechtlich abgesichert zum Schutz des Einzeltieres zu treffen. Nur so kann im Sinne des Art. 20a Grundgesetz auf einen respektvollen Umgang mit dem Mitgeschöpf Tier in allen Teilen der Gesellschaft hingewirkt werden.

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Gießen: VVB Laufersweiler Verlag, 2022

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